Der Mond ist aufgegangen
Der Mond scheint auch am Morgen. Zeitig hat der Wecker geklingelt. Der Neunjährige und sein Vater stehen auf und frühstücken gemeinsam. Dann machen sie sich auf den Weg. Beide gehen zur Schule. Die Grundschule befindet sich im Nachbarort. Sie liegt unten im Tal. Der Weg führt Vater und Sohn durch ei nen Weinberg hinab. Der Unterricht beginnt zur ersten Stunde. Der Neunjährige besucht die dritte Klasse. Der Vater unterrichtet an der Schule. Im Winterhalbjahr ist es um diese Zeit noch dunkel. Allmählich wird es heller. Die beiden Fußgänger blicken noch oben. Über dem bewaldeten Hang gegenüber steht der Mond am Himmel. Sein mildes Licht scheint dem Sohn und seinem Vater entgegen. Lächelt er ihnen zu? Die beiden freuen sich auf den Tag. Jener Donnerstagmorgen liegt schon viele Jahre zurück. Meine Erinnerung daran ist frisch geblieben. Wer erinnert sich nicht an besondere Eindrücke vom Mond? Ob Sichelmond, Halbmond oder Vollmond – jeden Tag sieht der Mond anders aus. Zumeist verbinden wir den Mond mit der Nacht oder dem Abend. Aber er zeigt sich auch tagsüber. Er kann sogar morgens scheinen.
Das Abendlied
Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar; der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar. Matthias Claudius hat sein Abendlied 1778 in Wandsbeck verfasst. Es steht bei verschiedenen christlichen Kirchen im Gesangbuch. Aus dem Liedgut unseres Volkes ist es nicht mehr wegzudenken. Das Lied ist bewussteinfach aufgebaut. Es vermittelt Bilder und weckt Sinneseindrücke in uns. Seine schöne Poesie spricht uns über die Zeiten hinweg an. Die ersten drei von sieben Strophen betrachten mehr die Natur. Die weiteren vier widmen sich stärker den geistlichen Zusammenhängen. Im Ganzen steht unser Leben im Mittelpunkt – als Menschen in der Welt und vor Gott.
Der Dichter Matthias Claudius
Als Sohn eines Pastors wurde Matthias Claudius 1740 geboren. Seine Mutter war die Tochter eines Flensburger Ratsherrn. In frohem Gottvertrauen ist er in seinem Elternhaus aufgewachsen. Einige Geschwister sind gestorben, als er selbst noch ein Kind war. Früh wurde er mit dem Tod konfrontiert. Dem gab er den Namen „Freund Hain“. Seiner Liebe zum Leben konnte der Tod nichts anhaben. Krankheiten plagten ihn schon in jungen Jahren. Doch hat er sich davon wieder erholt. Mit 31 Jahren heiratete er die damals 17jährige Anna Rebekka Behn. Mit ihr hatte er 12 Kinder. Bekannt wurde Claudius durch seine Tätigkeit beim „Wandsbecker Bothen“. Auch später veröffentlichte er seine Gedichte und weitere Schriften unter diesem Namen. Seine letzten Jahre waren durch Kriegsereignisse und Krankheit überschattet. 1815 starb er im Hause seines Schwiegersohnes.
Das Recht auf Erholung
Wie ist die Welt so stille, und in der Dämmrung Hülle so traulich und so hold! als eine stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt. Sprechen die eigenen Erfahrungen von Claudius aus diesen Versen? Der Dichter verleiht der abendlichen Welt eine romantische Stimmung. Traulich und hold sind Worte, die wir heute kaum verwenden. Er vergleicht diese Welt mit einem Schlafzimmer. Darin steht mein Bett, in dem ich mich nachts zur Ruhe lege. Gar nicht romantisch ist der Hinweis auf des Tages Jammer. Das ist Lebenswirklichkeit pur. Das Schlafzimmer ist nötig, um die Lasten des Alltags zu bewältigen. Die stille Kammerbrauche ich, um die Sorgen in meiner Seele zu ertragen. Claudius fordert ein Recht auf Verschlafen und Vergessen. Kein Mensch muss immerzu arbeiten und Leistung erbringen. Niemand muss alles wissen oder darf alle Daten sammeln. Es gibt ein Recht auf Erholung in jedem Lebensalter. Es gibt ein Recht auf Vergessen nicht nur in Zeiten der Krankheit oder am Lebensabend. Solches Vergessen gehört zum Menschsein. So aktuell sind die Verse des Dichters. Was passiert mit meinen Daten? Das fragen viele in unserer digitalisierten Welt. Große Konzerne gleichen Datenkraken, die alles sammeln und für ihre Zwecke verwerten. Wie werden unsere Daten geschützt? Wie steht es hier um das Recht auf Vergessen?
Solche Fragen bewegen uns als einzelne Bürger und Bürgerinnen. Sie fordern unsere Gesellschaft und Demokratie heraus. Im Zeichen des Mondes das Ganze sehen Seht ihr den Mond dort stehen? – Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn. Matthias Claudius wendet sich bewusst dem Mond zu. Er sieht in ihm ein Zeichen, um die Wirklichkeit zu verstehen. Die geheimnisvolle Seite der Welt öffnet sich im Zeichen des Monds. Kundige Gelehrte haben auf die Zeitepoche unseres Dichters hingewiesen. Es war die Zeit der Aufklärung. Die Menschen wollten die Welt erklären allein mit dem Verstand. Als Zeichen dafür wählte die Zeit der Aufklärung die Sonne mit ihrem hellen Licht. Dieses Licht sollte Unwissenheit und religiösen Aberglauben vertreiben. Aber kann das helle Licht der Sonne nicht auch grell werden und blenden? Ist die Welt restlos durch den menschlichen Verstand erklärbar?
Dieser Meinung war Claudius nicht. So kommt er auf den Mond und sein mildes Leuchten. Das Geheimnisvolle in unserer Welt bleibt unverfügbar. Der kalte Verstand erklärt nicht alles. Singen wir die ersten drei Strophen des Abendliedes.