RitualeHalt geben und leiten
Zwischen Taufe und Beerdigung erleben wir zahlreiche Feste, Zeremonien und Verhaltensweisen, die sich vom Alltag abheben. Das Feiern einer Hochzeit oder das Vorlesen vor dem Schlafengehen – viele Ereignisse folgen vertrauten Abläufen und haben eine feste Struktur.
Das vermittelt Vertrautheit und Sicherheit. Den Ritualen ist eigen, dass sie ohne viele Worte für sich sprechen und zum Ausdruck bringen, was mit Worten schwer auszudrücken ist: Meist sind es Gefühle. Neue Rituale entwickeln sich oftmals in Gruppen – man denke nur an die Fans, die während eines Fußballspiels den gemeinsamen Stolz ausdrücken. Das Wort Ritual entstammt dem indogermanischen RTA und bedeutet "Wahrheit" – "Rita" ist ein Sanskrit-Wort und meint das kosmische Weltgeschehen.
Orientierung in schwierigen Situationen
- Ein Ritual schützt mich, weil es mir in einer schwierigen Situation ein festes Verhalten vorgibt. Auf mich kommt nichts Unerwartetes zu und ich muss nicht spontan und kreativ reagieren. Gleichzeitig ist es in seiner Form mehrdeutig und lässt mir so Raum für mein Eigenes.
- Ein Ritual richtet sich nicht nur an meinen Verstand, sondern spricht auch meine Gefühle an. Durch seine feste Form kann es meine Gefühle kanalisieren.
- Gerade im Pflegedienst können Rituale eine wichtige Hilfe für Mitarbeitende sein: In meinem Heimalltag kann ich nicht alle Gefühle lange und ausführlich verarbeiten. Oft nehme ich "unerledigte" Gefühle mit nach Hause. Rituale sind in den Arbeitsablauf integrierbar und unterstützen mich, Erlebnisse angemessen und zeitnah zu verarbeiten. Rituale lassen mich dadurch in der gefühlsmäßig schwierigen Situation ganz dabei sein, und wenn ich ganz dabei bin, kann ich auch ganz wieder weg gehen und Neues beginnen. Rituale ermöglichen es mir so, in mein Alltagsleben zurückzugehen ohne abzustumpfen.
Deutung christlicher Situationen
Im Ritual werden ganz alltägliche Erfahrungen mit ihrem religiösen Gehalt und ihrer christlichen Deutung zusammengebracht. So kann sogar in krisenhaften Alltagssituationen die christliche Hoffnung aufleuchten und es können dafür Worte gefunden werden.
- Als pflegebedürftiger Mensch erfahre ich mich und meine Situation im Ritual neu.
- Für mich als Mitarbeitende kann dann deutlich werden, dass im Heimalltag nicht nur Kranke und Sterbende "versorgt werden", sondern dass das Handeln an kranken und sterbenden Menschen auch eine tiefere, verborgene Dimension hat.
- Rituale ordnen Raum und Zeit. Rituale bieten Haltepunkte in der Zeit.
Rituale ordnen das Leben und geben Sinn
Rituale ordnen Raum und Zeit. Rituale bieten Haltepunkte in der Zeit. An diesen Haltepunkten wird deutlich, dass es noch eine andere Dimension gibt, die hinter den zeitlichen und vergänglichen Dingen liegt. Ein Ritual kann mich an diesen Haltepunkten in diese andere Dimension mit hinein nehmen und mir immer aufs Neue die Ewigkeit aufschließen. Ohne diese rituellen Haltepunkte würde alles an mir vorbeirennen. Schöne und schreckliche Erlebnisse würden wie beim Zappen im Fernsehen an mir vorbeirauschen.
Meine Gefühle und meine Ausrichtung auf den Sinn meines Lebens kämen da gar nicht mehr mit. Zunehmend wird mein an mir vorbei rauschendes Lebensgefühl sinnlos werden. Durch rituelle Haltepunkte halte ich in bestimmten Situationen inne, lasse meine Gefühle zu und spüre die tiefere, verborgene Dimension des Lebens, die meinem Leben Sinn und Orientierung gibt.
Rituale lassen nicht allein
Rituale schließen mich mit den anderen Feiernden zu einer Gemeinschaft zusammen. Sie wirken gegen Vereinzelung und Vereinsamung, können mein Bedürfnis nach menschlicher Nähe und Gemeinschaft stillen. Als Kranker erlebe ich z.B. im Salbungsritual, dass ich bei Gott und den Mitfeiernden geborgen bin. Als Angehörige oder Mitarbeitende erfahre ich Halt und weiß, dass ich mit meinen Gefühlen und Gedanken nicht allein bin.
Rituale entlasten
Durch Rituale wird mein Glaube entlastet. Er muss sich nicht in jeder Situation, in jeder Krise neu erfinden. Das Ritual spricht mir in der jeweiligen Alltagssituation von Menschen gemachte Erfahrungen aus der religiösen Tradition zu und macht mich in meinem Glauben gewiss, dass auch ich in der jeweiligen Alltagssituation Gottes Gegenwart erfahren kann.
Dadurch ist das Ritual eine große Entlastung für meinen Glauben. Ich kann mich als pflegebedürftiger Mensch in einer schwierigen Lebenssituation, wenn Abschied und Veränderung mich bedrohen, in der Erfahrung der Tradition bergen. Gerade jetzt, wo medizinisch und pflegerisch vieles machbar scheint und ich als Mitarbeitende im Heimalltag doch so oft hilflos bin, kann ein Ritual mir helfen, dass ich sagen kann: "Hier weiß ich nicht mehr weiter – ich bin am Ende – wer kann hier noch helfen?" Ein Ritual kann mich hier den göttlichen Beistand spüren lassen.
Zeit der Gewöhnung
Erst wenn mir der Ablauf und die Worte eines Rituals vertraut sind, kann ich mich entspannen und mich, mein Denken und mein Fühlen vom Ritual tragen lassen. Wenn wir Rituale einführen oder überarbeiten, braucht es einige Zeit, bis ich mich in ihnen wohl fühlen kann.
Entleerte Rituale
Die Wiederholung kann ein Ritual auch ermüdend machen, ja sogar einen sinnlosen Zwang aufbauen. Ebenso kann eine veraltete Sprache das Ritual zu einer leeren (Wort-)Hülse machen. Dann muss ich eine Veränderung anregen.
Text: Jochen Schlenker, Studienleiter für Ehrenamtliche Seelsorge-KESS
Antje Fetzer, Waiblingen
Gerd Ziegler, Altenpflegeheimseelsorge Württemberg